2e – Bilderwelten: Die Vorliebe für das Detail und die selektive Isolation

Flaking Paint, Rust and Decay oder ähnlich heißen spezielle Channel (Genre), bei denen der Amateur ganz nah rangeht, um das Wunderbare im Kleinen zu entdecken. Aber nicht nur da ist der minimale Ausschnitt beliebt. Tatsächlich zieht die Vorliebe für das per Ausschnitt möglichst weitgehend isolierte Motiv weite Kreise. Man findet diese Bestreben auch in der Stadtfotografie oder bei den Portraits, und völlig deplatziert auch in der sogenannten Tele-Streetfotografie der Fußkranken und Feiglinge.

Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen sei darauf hingewiesen, dass es hier zunächst um den Ausschnitt, nicht um das selektive Fotografieren geht. Dem Unsinn, der heute mit großen Anfangsöffungen veranstaltet wird, widme ich mich am Ende dieses Artikels.

Als gelte es, den erjagten Fund möglichst deutlich, wenn nicht formatfüllend einzufangen, scheint es den meisten der fotobegeisterten ambitionierten Amateuren offensichtlich undenkbar, ohne lange Telebrennweiten den Herausforderungen ihres Zeitvertreibs gerecht werden zu können. Bridgekameras mit „Superzoom“ und geradezu grotesken Brennweitenfaktoren sind sehr beliebt und selbst der Fast-Profi mit seiner Vollformatkamera muss mindestens ein Zoom bis mindestens 200mm analog KB dabei haben, passenderweise ein Hochgeöffnetes, Dickes, Kiloschweres und Sauteures. Die Hersteller locken mit dem konnotativ voyeuristischen Argument, man könne Dinge „heranholen“, so als sei das Objektiv ein Fernglas und berge das Potential, die entkleidete Nachbarin in ihrem Schlafzimmer endlich mal formatfüllend auf die Platte zu bannen. Nur ein Beispiel, bei dem direkt sichtbar wird, wo der ganze ideologische Schwachsinn der Hobbyfotografie ihre Wurzeln hat: In der Werbung der Hersteller!

Wie auch immer, nach deren Maßgabe gibt es ohne lange Tüten anscheinend kein erfülltes Fotografenleben. Eine fotografisch groteske Ideologie, geboren einzig aus dem kommerziell angetriebenen „Habenwollen“ des Technikfetischismus und dem ewigen Nachäffen der Pressefotografen als Synonym für „Profis“. Sie waren es, für die die SLR hauptsächlich erfunden wurde, sie waren es, die die plötzlich realisierbaren langen Brennweiten für ihren Job brauchen konnten, speziell im Sport oder in der Pressearbeit. Ist der Amateur ein Paparazzo? Nein, aber er möchte so aussehen.

Schaut man zurück in die Sechziger, so sieht man, es dauerte doch recht lange, bis die Kleinbild-SLR sich gegen die Rolleiflex und Graflex und die M-Leicas durchsetzen konnten und endlich beruflich in der Gestalt der Nikon F2 brauchbar wurde. Und man fragt sich, wie in der Zeit vor der SLR die Fotografen eigentlich alle die wunderbaren Bilder zustande brachten, ganz ohne die superlangen Tüten.

Ein Blick in die Alben der modernen Teleliebhaber, und man sieht meist nur wenige Anwendungsbeispiele, in denen die langen Brennweiten wirklich voll zum Tragen kamen. Anscheinend gilt hier wie so oft das universelle Amateurcredo „Man weiß ja nie, ob man’s braucht!“; dieses Credo, das mit zunehmender Kaufkraft in der Anschaffung zahlreicher Objektive und schließlich in der Erfindung des sogenannten Fotorucksacks endete, den heute jeder haben muss, der was auf sich hält. Nicht zuletzt deshalb, weil erfolgreich die Falschinformation verbreitet wurde (von wem wohl?), das sei eine Erfindung der Profis.

Allerdings, auch wenn eher selten echte Supertelefotos von den Riesenzooms zu sehen sind, erkennt man doch einen deutlichen Hang zur längeren Brennweite in allen Fotos, unabhängig vom Sujet. Überall findet sich der winkelverengte Blick, der die Präsentation des Motivs deutlich machen soll, so deutlich, dass ja keiner dran vorbeiblicken und die berühmte, gefürchtete Frage stellen kann „Wo ist das Motiv?!“. Bei den Portraits werden jetzt schon Schnitte durch Stirn und Kinn modern, und August Sander, nach dessen Ansicht auf jedem Portrait die Hände zu sehen sein sollten, würde sich angesichts solcher sinnfreien Kreativmoden gewiss an den Kopf fassen.

Egal ob Menschen oder andere Objekte fotografiert werden, die Umgebung scheint zu stören. „Concentrate and isolate !“ (Ausschnitt und Freistellung) sah ich einmal angemerkt in einem Leica-Forum unter einem offensichtlich bewusst szenisch angelegten Multistory-Bild,  was der wichtigtuerische Kommentator aber anscheinend nicht sehen konnte; er war in einer albernen Regel mental und visuell gefangen. Nicht umsonst sah Barthes eine Verwandtschaft von Theater und Fotografie und genau in diesem Sinn kann die Menschenfotografie auch szenischen Charakter haben.

Die gleiche Unsitte ist dem „amateurischen Bildaufbau“ zu eigen, wie er im Mainstream praktiziert wird, wenn es um Objekte aller Art oder öffentliche urbane Räume geht. Wird bei Objekten die Umgebung miteinbezogen, wird dies als ablenkend gewertet. Ist die Fotografie nur einfach eine visuelle Ist-Beschreibung eines Raumes ohne irgendwelche Elemente, die gemeinhin als „fotografierenswert“ (sic!) gelten, kommt unweigerlich die irritierte Frage „wo ist das Motiv?“ und „Warum fotografiert man sowas?“.

Abgesehen davon, dass  der Fragesteller in diesem Fall am eigenen Kanon der jagdbaren Objekte scheitert (bei Landschaftsfotos kommt diese Frage seltsamerweise nie), hat die Vermeidung der gestalterischen Umgebungsintegration zugunsten einer vermeintlich expliziteren Darstellung etwas von der Primitivität grunzgeiler Pornofotos.

In den Kategorien „Stadtfotografie“ oder Stadtlandschaften“ der großen Bilderhaufen im Internet ist dies exemplarisch zu beobachten. Selektive freigestellte Objekte aller Art, immer zu wenig Bildwinkel, kein Blick für das Ganze, das den abgelichteten Ort als solchen ausmacht, und kein kreativ durchkomponiertes Bild, bzw. bestenfalls alle 300 Fotos eines, das in diesem Sinne überhaupt diskussionswürdig wäre. Die Umgebung stört nur, und soll  sie allein das Motiv sein, meldet die Ästhetik des Mainstreams „ERROR!“. Kein Wunder also, dass lange Brennweiten mehr Bedeutung haben als Weitwinkel, bei deren Benutzung schnell klar wird, dass man sehr nahe ran muss, weil sonst das fotografierenswerte Dingsbums erschreckend klein wird und ein Haufen Vordergrund übrigbleibt, den man mühsam strukturieren muss.

Einer geradezu debilen Überhöhung dieser Defizite soll eine besondere Anmerkung gelten.
Nach über einem Jahrzehnt Fotografie mit Halbformat (und kleineren) Chips und ihren bis dahin selten beklagten Beschränkungen bei der Tiefenschärfe gibt es seit einigen Jahren wieder das volle KB-Format und die alten Möglichkeiten selektiver Fotografie. Diese Kameras sind kostspielig, die hochgeöffneten Objektive auch, und damit ist Vollformat auch zwangsläufig ein Prestigeobjekt. So kommt es, wie es kommen musste, das Thema Schärfentiefe wird für die bekannte Spezies, die es schon immer nötig hatte, zum vermeintlichen Nachweis von sozialem Prestige.

Und so wird jetzt von vielen stolzgeschwollenen Vollformatlern freigestellt, dass die Schwarte kracht, egal ob das Ergebnis gestalterische sinnvoll ist oder nicht. Hauptsache es wird sichtbar, dass das Foto nicht von einem MFT- oder APS-C-Chip stammt, nicht stammen kann, bei den 5mm Schärfentiefe, die da demonstriert werden. Und wem gestalterisch gar nichts einfällt, der belässt es bei einfachen Demofotos und zeigt das Close-Up einer Bierflasche, bei der (Triumph der Technik!!) nur der vordere Teil des Etiketts scharf, der hintere unscharf ist. Der ästhetisch bildungsferne Amateur in der Angeberversion: Das Lächerlichste, was die Amateurfotografie schon immer zu bieten hatte, seit es sie gibt.

Hierzu ein passender Werbeartikel aus der FAZ:
http://www.faz.net/aktuell/technik-motor/audio-video/entwicklung-aus-japan-neue-kamera-objektive-13282447.html

„…Nichts für den einfachen Knipser…“

„…Und (bieten) damit die Möglichkeit, sich im Extremfall zu entscheiden: Soll der Schärfepunkt das Spitzlicht im Auge sein oder eine Sommersprosse auf der Stupsnase…“

„…Als kreativ bereichernde Werkzeuge, die eine stupende Bildqualität liefern, braucht sie gewiss nicht jeder. So manchen Knipser würden sie nämlich einfach überfordern.“