3g – Fotografische Sozialisation durch Fotoforen und -magazine: Die Demontage der Klassiker und das Diktat einer verblödeten Modernität

Zum bezeichnenden Teil des ideologischen Rahmenwerks, mit dem sich die Amateurfotografen des Mainstreams freie Bahn ins Spaßparadies schaffen, frei von jedem Bezug auf die Fotografie extra muros, gehören auch gewisse Regeln für den Umgang mit der fotografischen Geschichte und dem, was sie bis heute an Bedeutendem hervorgebracht hat. Von Marville, Stieglitz, Sander, Atget und Adams, über Lange, Evans , Renger-Patzsch, bis hin zu Cartier-Bresson, Ronis, Doisneau, Izis und Boubat, und weiter zu Feininger, Haas, Winogrand , Sieff und den Magazinfotografen der Sechziger und den New Topographics wie Baltz und Shore, um nur die prominentesten Vertreter zu nennen, ist in den letzten einhundert Jahren ein Bestand von fotografischem Kulturgut entstanden, das bis heute seinen kreativen und soziologischen Wert ebenso wenig verloren hat wie seinen dokumentarischen und ästhetischen, je nach Genre.

Wie nun mit diesen Leuchttürmen der Fotografie umgehen, als fotobegeisterter, ernsthafter Amateurfotograf, der nichts mehr fürchtet, als dass irgendwelche Maßstäbe angelegt werden an seine in unbefangener, spontaner Kreativität entstandenen Kunstwerke? Wer die vorausgehenden Artikel dieses Blogs verfolgt hat, wird es ahnen: Auch hier ist das probate Mittel die Strategie der Relativierung und Subjektivierung.

Da der fotografische Mainstream der Hobbyknipser nicht gerade ein Hort kultureller Bildung und intellektueller Transparenz ist, und dies, obwohl er alle Schulbildungsgrade umfasst, vom Förderschüler bis hin zu promovierten Akademiker, muss das ideologische Konstrukt allen Akteuren verständlich erscheinen, das heißt, es muss auch noch dem vollsten Vollpfosten plausibel genug sein, um es nachzuplappern.

Dementsprechend sind zwei Strategien besonders populär, um die Klassiker von jeder vorbildhaften, jeder thematischen oder ästhetisch orientierten Bedeutung zu entkleiden. Die erste ist die Behauptung einer rein auf die jeweilige historische Situation der Fotografen beschränkte Relevanz, die andere, noch universeller, ist die des publizistischen Zufalls.

Im ersten Fall wird gerne über -in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Malerei- die „Alten Meister“ räsoniert, und über den erstarrten Blick derer auf diese Meister als vermeintliche Vorbilder, die selbst nicht in der Lage seien, eigene kreative Wege zu gehen. Diese Methode der Neutralisierung hat den Vorteil, dass sie pauschal ist und so den Oberideologen entgegenkommt, die allesamt halbgebildete Abschreiber aus Wikipedia sind und ansonsten schon oft Mühe mit der deutschen Sprache in Wort und Schrift haben, geschweige denn, dass sie auch nur das Geringste wüssten über die fotografischen Klassiker, über die sie sich anmaßen, ein Urteil zu fällen. Dummheit schenkt kreative Freiheit, auf diese Essenz lässt sich diese Haltung eindampfen. Die Klassiker waren also (aber auch nur vielleicht) einmal bedeutungsvoll in den historischen Epochen ihres Schaffens, haben uns aber in der Gegenwart nichts zu sagen. Sieht man sich die Liste der eingangs erwähnten Künstler an und denkt man an eine Übertragung einer solchen Haltung auf die Werke der Musik, der Literatur, Philosophie und Malerei, begreift man das enorme Ausmaß an äußerster kulturbäurischer Verblödung, das im Universum der fotografischen Freizeitkreativität heute herrscht.
Die zweite Methode ist der ersten aber diesbezüglich ebenbürtig. Wird doch gerne behauptet, der Fundus der Klassiker, den uns die Fotogeschichte hinterlassen hat, sei mehr oder weniger ein Zufallsprodukt in seiner Zusammenstellung. Weil nicht die Qualität des Werkes selbst darüber entscheidet, welche Bedeutung es erlangt, sondern zunächst die Bedingung der Entdeckung und danach die Bedingung einer entsprechenden publizistischen Förderung. Es hätten auch viele andere die Bedeutung der heutigen Klassiker erlangen können, wenn sie nur einer berühmt gemacht hätte. So die Behauptung. Das Bauernschlaue, das überall in den Strategien der Relativierung und Subjektivierung durchscheint, tritt auch hier zutage. Denn diese Behauptung hat durchaus einen realen Kern, wie im positiven Fall Winogrands Werdegang beweist, im negativen Fall die postmortalen Ausgrabung des Mayer’schen Œuvre.

Es ist die Konklusion, an der die dümmlich-dreiste Methode der Relativierung, die nichts weniger als eine Herabwürdigung ist, erkennbar wird. Denn einerseits wird hier nur mit Annahmen gearbeitet, mit Spekulationen und Wahrscheinlichkeiten, andererseits mit einer pauschalen Relativierung, die nicht weniger sagt als dass die heutigen Klassiker nur Wenige unter Vielen seien, und deshalb(!) nicht „Götter“ seien, die man „anbeten“ solle, um es im üblichen Sprachgebrauch zu formulieren.

Das pauschale Element dieser Vorgehensweise garantiert dem fotografischen Parvenü, und das ist das Wichtigste für ihn, Qualitätsmaßstäbe (und solche sind die Klassiker, jeder einzelne) relativierend abzuwerten, ohne das Geringste über sie zu wissen! In den Kreisen derer, die sich mit Hörensagen, Abschreiben und Plagiaten in allen Lebenslagen behelfen müssen, eine ideale Methode. Denn keiner von ihnen kennt die Werke derer, über die er solchermaßen den verleumderischen Verdacht der Durchschnittlichkeit ausschüttet, und würde er sie kennen, wäre er nicht dazu in der Lage, auch nur einen kompetenten inhaltlichen Satz dazu zu produzieren.
Dummheit wird immer perfide, wenn sie anders nicht weiterkommt und hier wird besonders deutlich, mit welcher Hybris die Ideologie der Spaßknipserei konstruiert wird, und wie perfide sie werden kann, wenn Systemfeindliches im Wege steht.

Wer die Vergangenheit nicht kennt, versteht die Gegenwart nicht, und entsprechend simpel, strukturfrei und diffus ist die zeitgenössische Welt der kreativen Fotografie, wie sie sich die Vertreter der modernen Spaßwelt vorstellen. Nicht zufällig fällt auch dieses Wort früher oder später in jeder Diskussion, die das Thema Qualität berührt: „Modern“ ist der strahlende Gegenentwurf zu der Welt der rückwärtsgewandten, ewiggestrigen, sich an Traditionen und überholte Regeln klammernde Fotografie der Vorväter.

„Modern“ steht für Freiheit und Gleichwertigkeit, was dekodiert nichts anderes bedeutet, als dass jeder Nichtskönner sich Kritik verbitten kann an seinen Machwerken, so sich denn überhaupt einer herablassen will, diese Kritik auszusprechen. Modern bedeutet hier, in fotografischer Hinsicht nichts wissen und nichts können zu müssen, um so seiner eigen Kreativität, die als gegebene Voraussetzung bei jedem angenommen wird, der sich entschließt, eine Kamera zu kaufen, freien Lauf lassen zu können.

Diese Freiheit, besser Narrenfreiheit, ist ebenfalls ein wichtiges ideologisches Element und wird auch zuverlässig thematisiert immer dann, wenn es um Qualität geht. Diese Freiheit evoziert mitunter geradezu erschütternde Statements wie „dies ist ein freies Land“ , „ich lasse mir keine Vorschriften machen“ und anderen panischen Schreien in höchster Not.

Forscht man nach den Wurzeln dieser seltsamen Welt, die ideologisch frappierende Ähnlichkeit mit einem antiautoritären Kindergarten aufweist (die älteren Semester werden noch wissen, wie es darin zuging) so findet man, dass sie aus den verinnerlichten ideologischen Elementen aufgebaut ist, die die Hersteller und Händler über ihre Marketingkanäle Publizistik und Onlinemedien verbreiten, speziell über die sogenannten Communities mit strukturell starker Ausrichtung hin zu den sogenannten Social Media.

Der ganze ideologische Schwachsinn von der modernen, freien kreativen Knipserwelt unter dem Plafond von Friede-Freude-Eierkuchen, in der jeder, aber auch jeder Bilder produzieren und publizieren kann, sofern er mit dem Kauf einer Kamera quasi schon ein gewisses strebendes Talent zeigt, wird in dem Moment zum sinnvollen, logischen Konstrukt, wenn man die wichtigste Grundfrage des Lebens stellt, die da lautet: Cui bono? Wem nützt die ganze Verblödungspropaganda, als die sich die Ideologie der Massenfotografie letztlich entlarvt?
Sie nützt einzig den Herstellern, heute unter zunehmendem Druck in einem bereits weitgehend gesättigten Markt mit immer kürzeren Innovationszyklen, die schon lange keine mehr sind, und die zu immer kürzeren Abschreibungszeiträumen und damit zu immer größeren Wertverlusten führen. Die ideologische Verblödung der Massenfotografie erweist sich also auch hier, wie bisher immer, als kommerziell angetrieben, sie besteht im Grund aus nichts als anderem als aus Werbebotschaften, verwoben zu einer fröhlichen Kinderwelt, verinnerlicht von der Zielgruppe.