4a – Digitale Technik als Verblödungsfaktor: Der Auflösungswahn

Schauen wir zu Beginn dieses Kapitels zunächst zurück in die vor-digitale Zeit der Amateurwelt, denn der historische Vergleich lässt den aktuellen Qualitätswahn erscheinen als das, was er ist: Eine von der technischen Entwicklung und dem Marketing der Hersteller und ihrer bezahlten Claqueure in Print- und Onlinemedien bis zur Entgleisung gepushte Vorstellung von Qualität, die bei sehr vielen Kunden eine echte Zwangsneurose geworden ist. Was man daran erkennt, dass sie schon lange keiner rationalen Argumentation zugänglich sind, und sei sie noch so schlagend.

Schauen wir also zurück, in das Filmzeitalter, als alle den gleichen Film benutzen mussten und sich die Qualität folgerichtig nur über das Gerät unterscheiden konnte, bzw. darin, was das Gerät aus dem Medium an Qualität herausholen konnte. Eine Qualitätsdiskussion gab es in dieser historischen eingeschränkten Form, die das Medium noch weitgehend ausnimmt, schon damals, und schon damals trug sie irrationale Züge, in ihren extremen Formen jedenfalls. Schon damals gab es die Spezies der Linienzähler, die ihre Negative vom Siemensstern mit starken Lupen betrachteten, um „vergleichende Auflösungsforschung“ zu betreiben. Sie kannten auch alle MTF Charts der Objektive „ihres“ Herstellers und die der direkten Konkurrenz (und zwar auswendig), wie sie in speziellen Testlaboren regelmäßig ermittelt wurden und die damals schon die Frage aufwarfen, wer sie eigentlich für ihre Arbeit bezahlt. Die heutigen Pixelpeeper hatten also in gewisser Weise Vorfahren. Auch die freiberuflichen Linsengurus existierten, wer erinnert sich nicht an den fabelhaften Erwin Puts, der heute noch tapfer testet, nach wie vor nur für Leica.

Das Irrationale an diesem ganzen Treiben bestand auch damals schon darin, dass über optische Auflösungsleistungen als kaufentscheidende Größe debattiert wurde, die sich in der fotografischen Praxis überhaupt nicht realisieren ließen. Einerseits waren der üblicherweise verwendete, handelsübliche Film und erst recht der Print limitierende Faktoren, die keine Optik überwinden konnte, andererseits ist das Auflösungsvermögen des menschlichen Auges begrenzt. Zudem lagen in der Handhabung der Kamera durch Fotografen massive Fehlerquellen. Typisches Beispiel der zwanghaften Qualitätsidee damals war das Opfer der Mythen, das sich eine Leica und ein Summilux kaufte, um dann im Halbdunkel mit einem 400er Film, f 1.4 und eine ¼ Sekunde („Die Leica hat ja keinen Spiegelschlag, da geht das!“) ein „Available Light“-Foto zusammenzuwackeln, das von den 200 lp/mm (oder was weiß ich wie viele, die Puts ertestet hatte) des fabelhaften Objektivs gerade noch 30 aufs Papier brachte, wenn überhaupt.
Das war der typische wohlhabende Amateur, und der arme Amateur träumte davon, auch so zu sein. Er sparte damals über Jahre, an allem, bis er das Geld für eine gebrauchte, verharzte Leica und ein ebenso verharztes, vernebeltes Summicron zusammen hatte und selbst fantastische Leica Bilder zusammenwackeln konnte. Welcome to the club.

Das Irrationale an der Diskussion über die technische Bildqualität, das sich darin ausdrückt, dass man sich ganz auf das theoretische Potential als Absolutum bezieht und dessen Relativierung auf die praktischen Anforderungen beiseite lässt, dieses Irrationale ist nicht nur älter als der gegenwärtige Hype um die „BQ“, es ist vielmehr ein Geburtsfehler der Amateurfotografie von der Zeit an, als eine breite Masse angeblich professionelle, semiprofessionelle oder wenigstens hochkreative Ausrüstungen für fotobegeisterte Kreativknipser kaufen konnte. Zu dieser Zeit wurde der Geburtsfehler der Idee offensichtlich, dass Fotografie ein Zeitvertreib sei wie Buddelschiff und Modelleisenbahn.

Denn der Profi hat einen Auftrag, der ihn verpflichtet, ein bestimmtes Ergebnis in einer bestimmten Qualität abzuliefern, jeweils ganz abhängig davon, welcher Verwendung das Ergebnis zugeführt werden soll. Genau dafür, für dieses im Auftrag definierte Soll an Qualität sucht sich der Profi sein Werkzeug zusammen, erwirbt es oder leiht es. Nicht weniger und aber auch nicht mehr, denn mehr ist teurer und teurer schmälert den Ertrag. Equipment ist in der Berufsfotografie ein Investitionsgut und wird dementsprechend bedarfsfokussiert dimensioniert.

Der Amateur hat keinen Auftrag. Somit auch keine Qualitätsforderung in einem Pflichtenheft.
Für ihn gibt es bezüglich der Qualität deshalb keine Bedarfsfokussierung, sondern nur ein Limit, und das ist sein Geldbeutel. Dazu kommt ein zweites Problem: Der Amateur ist, damals wie heute, in der Qualitätsdiskussion fixiert auf nur eines von mehreren relevanten Kriterien, und das ist die Auflösung. Was früher als „Schärfe“ bezeichnet wurde, obwohl es sie als physikalisch Größe nie gab, sondern nur Auflösung und Kontrast, die beide zusammen für einen gewissen „Schärfeeindruck“ sorgten. Heute ist Auflösung nur noch Bildgröße und Pixelanzahl, die lp/mm meist nur ein hieraus errechneter Wert, selten noch ein echtes Messergebnis vom guten alten Siemensstern. Irrelevant ist dies ab einer gewissen Größenordnung heute so wie es früher auch war. Viel relevanter für die BQ sind andere Eigenschaften eines Systems: Randschärfe bzw. Schärfeverteilung, Farbwiedergabe, chromatische Aberration, Helligkeitsabfall in den Ecken (der falsche Ausdruck „Vignettierung“ ist heute Standard), innere Reflexion, Streulichtstörungen, Bildfeldwölbung und Grad und Art der Verzeichnungen. Der falsche Ausdruck „Verzerrung“ ist auch hier Standard geworden.
Diese Kriterien sind heute weitgehend untergegangen in einer Zeit, in der die Masse der Amateure die Vorstellung von Bildqualität primär mit den Eigenschaften des Mediums, Chips also, verbindet und Abbildungsfehler der Objektive lediglich als eine Sache der Software im Postprocessing zu sein scheint. Das Objektiv und seine Qualität(en) tritt erst wieder mehr ins Bewusstsein der Auflösungsfetischisten, seit die Chips derartige Mengen an MP liefern, dass manche ältere Linsen damit überfordert sind.

Bleiben wir zunächst bei der Auflösung, dem neuen Fetisch des digitalen Zeitalters. Megapixel ist heute die erste Frage, und wie viele davon bekomme ich für mein Geld.
Man nimmt was man bekommen kann, nach dem Motto viel hilft viel, und was zuviel ist, kann auch nicht schaden. Was es aber effektiv tut, unter bestimmten Bedingungen wie Schwachlicht zum Beispiel und bei hohen ISO Werten.

Kein argumentatives Konstrukt ist zu doof, um diesen Grundsatz „viel hilft viel“, der eher ein Grunz-Satz ist, zu belegen. Zur Illustration dieser Behauptung sei auf dieses technische Essay und die Reaktion darauf verwiesen: http://www.photoscala.de/Artikel/Einlassungen-zur-Bildqualitaet#comment-211660
Der Autor nimmt mir viel Schreibarbeit ab, und die Kommentare haben hohe Beweiskraft für die Existenz des Irrationalen in der Amateurfotografie. Verblüffend: Auch der Hinweis auf die vergleichsweise geringen MP Zahlen bei echten Profikameras rufen keine Reaktion hervor, aber so ist es eben, wenn man sich am Irrationalen orientiert, da muss das Rationale einfach weggedrückt werden. Anders und deutlicher ausgedrückt: Dem Wahnsinn ist nicht mit Argumenten beizukommen, das ist es ja, was ihn ausmacht.

Zwei die Auflösungsverblödung besonders plakativ illustrierende Pseudoargumente sollen kurz erwähnt sein, weil sie besonders deutlich machen, welche Blüten das Irrationale treiben kann.
Da wäre zunächst das Argument, dass viele MP auch kleine „verlustfreie“ Ausschnitte ermöglichen, ein Plädoyer für die Fotografie mit Photoshop am Bildschirm. Auf die Spitze getrieben fand ich diese Idee von einem notorischen Forendummkopf im Gewand des Künstlers, der es „modern“ fand, bald mit möglichst noch viel mehr MP als bisher zukünftig nur noch mit einem Weitwinkel bewaffnet wie mit einer Schrotflinte in die Richtung des Geschehens zu ballern um dann zuhause am Monitor zu sehen, ob sich aus diesen Pixelhaufen ein brauchbares Bild ausschneiden lässt. Revolutionär ist diese Idee nun gerade nicht, auch nicht modern: Wir hätten dann auch bei der Graflex Speed Graphic mit einem 4X5“ Sheet der 50er Jahre bleiben können. Da war das die übliche Methode bei den Reportern. Maximal drei Sheets bekamen sie von der Redaktion und drei der riesigen Bulbs, zwei Bilder mussten sie nach Hause bringen. Ich wette, so mancher moderne Amateur wälzt sich nachts schreiend im Bett, den Albtraum durchlebend, mit derlei Beschränkungen sein Brot verdienen zu müssen. Die fotografische Hölle schlechthin. Nun ist der Amateur aber kein Fotoreporter, der um jeden Preis zwar kein Bild, aber doch eine illustrierende Abbildung in die Redaktion bringen muss. Er ist vor allem jemand, der einen ausgedehnten Objektivpark sein eigen nennt, und pausenlos feuern kann, soviel er will. Insofern wird sogar den meisten Amateuren die Idee von der 100MP Kamera mit dem Superweitwinkel drauf als Universallösung als der höchste, der letzte Grad der Verblödung erscheinen, den der fotografierende Mensch erreichen kann.

Aus der Feder des gleichen Hofnarren der modernen Fotografie stammt auch die Abschaffung einer alten Relation, die mit der Konstante des menschlichen Auges und der variablen der Bildgröße und des Betrachtungsabstands die notwendige Auflösung für einen Print errechnet. Nun sagt aber der moderne Technikdepp, der gewohnt ist, am Monitor mit Ausschnittsbetrachtungen Pixel zu peepen (Die Tester der Kreativpresse und der Online Gurus machen das ja auch so), das sei alles überholter alter Quatsch, Quatsch der Ewiggestrigen natürlich wieder. Er möchte gerne heute die Möglichkeit haben, auch aus 15cm Entfernung einen Print 2X3m betrachten zu können und dann auch eine präzise Darstellung auch allerfeinster Details vorfinden. Ein „begehbares“ Bild sozusagen. Womit uns die moderne Fotografie also dann dahin gebracht hat, dass wir nicht mehr Negative mit der 10X Lupe betrachten sondern mit dieser auch Prints an der Wand, im Format 2X3 Meter. Das ist der neue, völlig verblödete, jeder praktischen Relativierung enthobene Qualitätsbegriff, den der digitale Auflösungswahn in der Amateurfotografie hervorgebracht hat, um das überbordene Angebot an immer mehr und dichter gepackten Megapixel allerorten plausibel zu machen.

Jeder, der sich einen neuen Fernseher kauft, weiß um die Zusammenhänge von Auflösung, Bildgröße und Betrachtungsabstand, oder er wird vom Verkäufer darauf hingewiesen, damit er das für ihn richtige Gerät kauft. Nach den Maximen der modernen Amateurfotografie müsste er sich das größtmögliche Gerät mit der größtmöglichen Auflösung kaufen, um auch noch mit der Nase auf dem Bildschirm kleinste Details identifizieren zu können.
Erwin Puts übrigens, der alte Leica Veteran an der Qualitätsfront, weist in seinem Blog auf diese Art der Grundlagenverblödung auch hin, unter der Rubrik „Vanishing Knowledge“, was sich dezenter liest als Verblödung, aber auch nicht ganz den Kern der Situation trifft. Denn hier verschwindet kein Wissen im Sinne des Vergessens, sondern es wird vorsätzlich beiseite geräumt, um die Verwendung von Geräten plausibel erscheinen zu lassen, deren Potentiale keiner nutzen kann, es sei denn, er verbrennt sein Geld mit hauswandgroßen Prints, die er in einem eigens dafür angemieteten Flugzeughangar ausstellt.
Dem Irrationalen fällt alles zum Opfer, wenn durch die Verinnerlichung der Werbebotschaften die Verblödung nur weit genug fortgeschritten ist. Sogar die Profis, die sonst so gerne Orientierungspunkt sind, werden von diesem Wahn beiseite geräumt, der Schneepflug der Verblödung ist unaufhaltsam. Warum haben denn die echten Profi Kameras nur 16MP auf ihren Chips? Was sind denn die üblichen Dateigrößen, die für eine Doppelseite im Magazin gefordert werden? Was nimmt denn der Profi tatsächlich für Geräte, wenn er auch mal Riesenprints abliefern muss? Egal, scheiß drauf: Ich geb’ Gas, ich will Spaß, ich will ein moderner Fotograf sein, egal, was das Nutzlose und Überflüssige kostet, es ist so schön zu haben und zu glauben! Denn der Glaube ist reine Emotion, garantiert hirnfrei, und ein weiteres Element des Eskapismus, den die Amateurfotografie erlaubt, neben der Pflege der Schönheit des Kitsch und dem ahnungslosen aber kreativen Basteln in den beschützenden, kritikfreien Werkstätten der Communities und ihrer schleimenden Buddies.. Und ganz zuletzt kommt noch the pride of ownwership, der Besitzstolz, der macht ja auch einen Riesenspaß. Zu dem komme ich auch noch, später.