4d – Digitale Technik als Verblödungsfaktor: Das Spiel mit der Technik – Die Pseudokreativität und ihre digitale Explosion

„Kreative Fotografie“ war schon immer ein etwas seltsames Wort, denn Fotografie ist eigentlich fast immer eine kreative Tätigkeit, bis hinein ins rein Dokumentarische. Sogar Verkehrsunfälle erfordern von Fotografen Gestaltungsentscheidungen. Egal, wo jeder hier seine Grenze ziehen will, war die „kreative Fotografie“ die experimentelle, sich von herkömmlichen Gestaltungsprinzipien lösende Fotografie jenseits des reinen fotografischen Handwerks. Solarisation, Mehrfachbelichtungen, Montagen, Verfremdungen, Filter, spezielle Entwicklungen ebenso wie die verfremdete Abbildung von Objekten des Alltags, die bis dato nicht als würdig einer Abbildung befunden worden waren, dies alles und noch mehr füllte den Begriff der „kreativen Fotografie“ als Untermenge all dessen, was „unter Kunstfotografie“ geführt wurde, also der Fotografie, die mehr als Handwerk sein wollte, aber mit dem Pictoralismus nichts zu tun haben wollte. Man Ray und die Surrealisten sowie die russische Agitprop-Fotografie sind beispielsweise bekannte frühe Protagonisten dieses Genres, Moholy-Nagy gehört dazu und vielleicht auch Fotografen wie Renger-Patzsch, der u. a. Details aus der Welt der Technik durch seine Aufnahmen eine neue Identität gab. Die Schönheit der Dingwelt, sie spielte generell eine große Rolle in dieser frühen Entstehungszeit der kreativen Fotografie, maßgeblich mitbestimmt von den Pariser Surrealisten, dem Bauhaus und der russischen Schule des neuen Sehens.

An dieser Zuordnung änderte sich nicht viel, bis zu Beginn der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als die Industrie begann, die Freizeitfotografie als einen Markt zu entdecken und sich daran machte, diesen aktiv zu „entwickeln“. Mit dem Aufkommen von Kameras mit Wechselobjektiven, die von Beginn an mit dem Versprechen angepriesen wurden, mit ihnen könne man neue kreative Räume erschließen, begann nun der Begriff der kreativen Fotografie zu wandern, von der Imagination hin zur Maschine als spezialisiertes Kreativitätswerkzeug, ähnlich dem Spritzbeutel für Spritzgebäck, mit dem man je nach Vorsatz unterschiedlich geformtes Gebäck erzeugen kann.

Nicht zu vergleichen mit dem alten Begriffsinhalt, der sich lediglich auf experimentelle Prozesse in der Produktionskette bezogen, konnte man jetzt Kreativität kaufen. Nicht zu vergleichen mit den heutigen Zuständen, wo Kameras quasi Kreativitätsbomben geworden sind, aber ein Anfang war gemacht, eine Entwicklung war angeschoben, an deren apokalyptisch verblödeten Ende wir heute angekommen sind. Zunächst ging es eigentlich nur um Bildwinkel, Makro, und Filter, mit und ohne Farbe, Allerdings, „nur“ ist untertrieben, vor allem Objektive eröffneten ein enormes Umsatzpotential, man musst dem Otto Normalknips nur klar machen, dass er mindestens drei bis alle davon brauchte, um seine persönlichen Kreativpotentiale auszuschöpfen. Was schon damals sofort sichtbar wurde: Herumspielen, ausprobieren und experimentieren ist nicht kreativ, wenn kein kreativer Kopf dahintersteckt. Denn Kreativität kommt aus dem Kopf, technischer Schabernack hat nichts damit zu tun.

Kurz vor dem Übergang zum Zeitalter der digitalen Fotografie gab es dennoch eine Art Explosion der maschinellen Kreativität, sie hieß Lomography. Zwei clevere Studenten, die sich in den Tiefen der Amateurseele auskannten, begannen, russische Primitivkameras auf dem Niveau einer Instamatic teuer zu verkaufen. Was Erfolg hatte, weil sie die Gebrauchsanleitung zum kreativen Glücklichsein gleich mitlieferten, obendrein noch ein ideologisches Konstrukt, in dem in jedem zweiten Satz von „Freiheit“ die Rede war und natürlich von „Kreativität“, alles zusammen bestens tauglich zum Aufbau einer eigenen Community. Die Idee war, billigste Kameras zu Mondpreisen verkaufen, die so schlecht waren, dass auch der schlechteste, ahnungsloseste und talentbefreiteste Fotopfuscher mit seinen Ergebnissen nicht auffiel, was als neue Freiheit verkauft wurde: Eine völlige Loslösung von allen Qualitäts- uns Gestaltungsverpflichtungen, mit der die „normale“ Fotografie zum Leidwesen vieler leider behaftet ist. Geradezu pornographisch wurde das alles mit überlagerten Filmen und Crossentwicklungen. Man tritt also dem Material in den Arsch, macht alles falsch, was sonst richtig ist und findet interessant, wenn nicht gar kreativ, was dabei herauskommt. Das war sozusagen die äußerste Überhöhung der Idee des rein subjektiven Qualitätsbegriffs und des kritikfreien Raumes, und diese wurde nicht nur von den Pfuschern goutiert sondern auch von den verbissenen Linienzählern, die sich mit der Lomo eine Auszeit nahmen aus dem täglichen Kampf um das „scharfe“ Bild. Lomography als Wellnessurlaub für den Materialfetischisten. Man hätte das auch mit irgendeiner alten analogen Pocketkamera machen können, aber nein, ohne den geweihten Gerätefetisch keine Religion und keine Kirche, also auch kein Geschäft. Die Sektengründer wussten Bescheid und verdienten gut daran, als Unternehmer genossen sie meinen Respekt, im Gegensatz zu ihren Kunden.

Dann kam das digitale Zeitalter, und damit Kameras mit immer mehr dieser eingebauten maschinellen Kreativität, und wer beobachtet hatte, was bei Lomo geschah, der konnte prognostizieren, was jetzt im Mainstream kommen würde.

Denn jetzt gab es das „Bild ohne Ursprung“, vom Moment seiner Entstehung an ein durch Algorithmen errechnetes und damit interpretiertes Ergebnis, das aus den Signalen errechnet wurde, die ein Haufen halbblinder, ins Licht starrender Transistoren dem Bildprozessor lieferte, durch den Bayer Filter hindurch, der Kodaks letzte Rache an der Digitalfotografie war. Damit entstanden ganz neue Möglichkeiten maschineller Kreativität, intern fest verbaut oder extern in der Bearbeitungssoftware, was auch eine maschinelle Bearbeitung darstellt, obgleich sie vom Bearbeiter und nicht von der Kamera gesteuert wird.

In der Folge explodierte geradezu das Angebot an eingebauter Kreativität. Es gab und gibt Modi und Filter haufenweise, ebenso Filmsimulationen bis hin zu einer infantil geschmacklosen Interpretation dessen, was für typisch Pola gehalten wurde. Gipfel der Kreativität: Man konnte Bilder wie mit dem iPhone geschossen aussehen lassen, also die Simulation eines Style, der selbst eine Imitation war, die vom Lomobild nämlich. Die Simulation einer Simulation, Kreativität in präkomatöser Verblödung.

Auszug aus dem Pressetext einer neuen 300 Euro Kreativknipse:

Zitat:

Kreative Filtereffekte und attraktive Funktionen

Die Superduperalldancingandsinging XDH2B bietet elf kreative Filtereffekte, die besonders ausdrucksstarke Aufnahmen ermöglichen:

  • „Pop Farbe“: Betont Kontrast und Farbsättigung.
  • „Lochkamera“: Dunkle Ränder erzeugen einen Effekt, als sei das Foto mit einer Lochkamera aufgenommen worden.
  • „Miniatur“: Der obere und der untere Bildbereich werden unscharf wiedergegeben, um den beliebten Diorama- oder Miniatureffekt zu erzeugen.
  • „Dynamische Farbtiefe“: Fantastische Effekte mit einer dynamischen Farbtonwiedergabe.
  • „Partielle Farbe“: Eine Farbe kann ausgewählt werden, die erhalten bleibt, während der Rest des Bildes in eine Schwarzweiß-Aufnahme umgewandelt wird.
  • „High Key“: Für Aufnahmen mit heller Tonalität und subtilen Kontrasten
  • „Low Key“: Für Aufnahmen mit überwiegend dunklen Bildteilen und wenigen betonten Highlights.
  • „Sternenfilter“: Helle Objekte werden mit einem Strahlenkranz umgeben.
  • „Weichzeichner“: Ein gleichmäßiger Unschärfeeffekt wird über das gesamte Bild gelegt.
  • „Fischauge“: Sorgt für einen Fischaugen-Effekt.
  • „Skizze“: Erzeugt Bilder wie bei einer Zeichnung.

Zusätzlich zu den kreativen Filtereffekten ist es mit der Superduperalldancingandsinging XDH“C möglich, zwei oder mehr Bilder zu schießen und diese zu einer High-Dynamic-Range (HDR) Aufnahme zu kombinieren.

Die Intervall-Funktion ermöglicht es, Zeitraffer-Aufnahmen zu machen. Bilder können in Abständen von bis zu zehn Minuten bis zu einer maximalen Dauer von sechs Stunden aufgenommen werden.

Mit einem einzigen Druck auf den Auslöser sind außerdem atemberaubende 360° Panorama-Aufnahmen möglich.

Zitat Ende

Ein nur durchschnittliches Angebot; wer mehr Geld ausgibt, bekommt auch mehr von diesem größtenteils hirnrissigen Mist aus dem Kindergarten.

Die Softwaretools sind nicht besser: Effekte und Styles und/oder die Vergewaltigung eines Fotos mit allen Mitteln (man denke nur an das frühe Neat Image) , und derer sind viele, bis hin zum wüsten, wilden Kitsch, das gilt im Mainstream mehrheitlich als kreativ. Kitsch als Begrifflichkeit ist definiert primär durch seine Übertreibung, sekundär durch seine Intention der kommerziellen Verwertung. Muss der Amateur was verkaufen? Nein. Man fragt sich also, woher kommt diese massenhafte digitale Geschmacksdetonation der Übertreibung? Sie kommt daher, wo so viel Übles im Mainstream herkommt: Aus der Nachahmung kommerzieller Werbeästhetik, das große heutige Leitbild des fotografierenden Otto Normal. Mangels jeglicher ästhetischer Vorbildung und bedingt durch einen auf elektronische Werkzeuge reduzierten Kreativraum: Was auch sonst sollte Leitbild sein? Die Ästhetik der alltäglichen kommerziellen Bilderwelt ist die Leitästhetik der Amateure geworden. Nachahmung ist der neue Ehrgeiz, und wer neu hinzustößt, der ahmt zunächst die Nachahmer nach, bevor er stilsicher genug ist, auch selbst Originalnachahmungen anzufertigen von Objekten, die schon milliardenfach nachgeahmt wurden. Diesem Thema wird aber ein eigenes Kapitel gewidmet werden.