1990-2013


1990
Schule und Zivildienst abgeschlossen, ich studiere Chemie, ziehe ins Obergeschoss des großelterlichen Hauses, 2 Straßen von meinem Elternhaus entfernt, um meine Oma bei der Pflege meines Opas zu unterstützen. Das Haus ist Teil einer kleinen städtischen Siedlung mit dem Namen Am Roten Haus im Düsseldorfer Norden, gelegen zwischen Nordpark und Flughafen.
Besonders interessiert habe ich mich damals nie für die Siedlung, so wie man sich selten in der Jugend für seine direkte Umgebung interessiert. Sie war eben da und für mich als Kind und Jugendlicher war sie sowieso schon ewig da. Weil man sich in jungen Jahren nicht vorstellen kann, dass die eigene Heimat nur ein paar Jahrzehnte älter ist als man selbst.

8 Jahre intensiver Beschäftigung mit der Fotografie liegen 1990 bereits hinter mir: eigenes Fotolabor, Kleinbild, Mittelformat, viel Ausschuss, viel Anfängerkram, eine gelungene Fotoserie.
Die Freizeit wird immer knapper, ich komme kaum noch zum Fotografieren. Bevor ich die Fotografie für über 10 Jahre aufgebe, muss noch was geschehen. Irgendwas Dokumentarisches, Dokumentarfotografie ist doch eigentlich ganz interessant. Und eigentlich ist auch diese heimatliche Siedlung ganz interessant, die ungewöhnlich geformten Häuschen, diese sich neben- und übereinander stapelnden Anbauten, Umbauten, Erweiterungen, die teils liebevoll gestalteten, teils verkommenen, häufig mit Nippesfigürchen überladenen riesigen Gärten, in denen die kleinen Siedlungshäuschen stehen. Hochauflösenden Dokumentenfilm (Agfaortho 25, mit 12 ISO belichtet) gekauft, die Minolta auf’s Stativ geschraubt, 2 Tage geknipst, Filme entwickelt, für gut befunden und abgeheftet. Für eine lange Zeit.

2013
Ich wohne schon lange nicht mehr in der Siedlung. Aber seit 2003 wird wieder fotografiert. Vornehmlich Stadtlandschaften, Straßenszenerien, Architektur. Mir fallen die alten Siedlungsbilder in die Hände. Sie reizen mich, 23 Jahre später noch einmal die Siedlung zu dokumentieren, diesmal digital. Auch diese Bilder landen erst einmal in der Versenkung.

2016
Seit 1 Jahr wohne ich in Berlin. Vorher fast 50 Jahre in Düsseldorf. Zeit, Resümee zu ziehen. Alte Fotos werden gewälzt, auch die alten Siedlungsbilder. Ich fange an, mich mit der Geschichte dieser Siedlung zu beschäftigen, Google ist mein Freund. Und spuckt mir ein Buch aus, in dem alles Wissenswerte steht, geschrieben 1988, 2 Jahre vor meinem ersten Fotorundgang:
Siedeln in der Not : Umbruch von Wohnungspolitik und Siedlungsbau am Ende der Weimarer Republik / Tilman Harlander ; Katrin Hater ; Franz Meiers
Prof. Dr. rer. pol. habil. Tilman Harlander beschreibt beispielhaft anhand der Düsseldorfer Siedlung Am Roten Haus die Hintergründe und Anlässe, aber auch Planung, Siedlungskonzept und Haustypologien der von Brüning geförderten Erwerbslosen-Siedlungen, die am Ende der Weimarer Republik in vielen Städten Deutschlands entstanden.
Zu dieser Zeit herrschte akuter Wohnungsmangel in Düsseldorf und vielen anderen Städten. Die Bevölkerung wuchs bereits seit mehreren Jahren stetig, von 367.000 1916 auf das Vorkriegsmaximum von 542.000 1940. Die Stadt- und Länderkassen waren leer, es gab kaum öffentlichen Wohnungsbau. Wilde Siedlungen installierten sich auf stadtnahem und ungenutztem Gelände, so wie die reichsweit berühmt-berüchtigte Heinefeldsiedlung auf einem ehemaligen Exerzierplatz. Ungeplant, kein Wasser und Strom, keine befestigten Straßen, die Bewohner Randgruppen der Gesellschaft, Mittellose, Verbrecher, Zigeuner. Den rauhen Charme dieser Siedlung und ihrer Bewohner hielt ein Maler der Düsseldorfer Kunstakademie Otto Pankok in eindringlichen Bildern fest.
Das öffentliche Bild der Heinefeld-Siedlung war entsprechend und diente als Negativbeispiel für die ungenügende Wohnungspolitik Düsseldorfs. Öffentliches Geld war kaum vorhanden, die Stadt verfügte lediglich über Land und knappes Baumaterial. Die zahllosen Wohnungssuchenden hatten handwerkliche Kenntnisse und Arbeitskraft anzubieten. In einem Joint-Venture zwischen Stadt und Wohnungssuchenden stellte Düsseldorf bebaubares Land ganz in der Nähe der Heinefeld-Siedlung zur Verfügung und schloss das Gelände an das Wasser-, Strom- und Straßennetz an.

Architekten des Stadtbauamts entwarfen einfache Häuser, die vornehmlich in Eigenleistung von den zukünftigen Bewohnern -zunächst hauptsächlich Handwerker- aufgebaut wurden. Das Baumaterial wurde zum größten Teil von der Stadt gestellt, ein ehemaliges Fabrikgebäude der benachbarten Rheinmetall-Werke diente als Steinbruch für Ziegel. Die weitläufigen Eigenversorgungsgrundstücke wurden zu niedrigen Konditionen an die Siedler verpachtet. Innerhalb kürzester Zeit standen rund 70 Häuser.

Zu den Handwerkern der ersten Bewohnergeneration gesellten sich Beamte, Architekten und Künstler der nahe gelegenen neuen Kunstakademie und führten zu einer vielseitigen und angenehmen Durchmischung der Bewohnerstruktur. In den 50ern und 60ern wurde die Siedlung durch eine teilweise Neuparzellierung der sehr großen Eigenversorgungsgrundstücke verdichtet und um neue, großzügigere Häuser mit wesentlich kleineren Ziergärten ergänzt. Die alten Häuser mit ihrer kleinen Wohnfläche wurden stetig unter weitestgehender Nichtbeachtung der Bauvorschriften in Eigenregie umgebaut und erweitert. 1990, 60 Jahre nach Siedlungsgründung, bestand die Siedlung fast vollständig aus diesen erweiterten Ursprungsbauten. Das Erscheinungsbild ist speziell; wohlwollend kann man von kubistischen und dekonstruktivistischen Architekturexperimenten sprechen, die der Finanznot der größenteils armen und kinderreichen Bevölkerung geschuldet sind. An Material wird verbaut, was gerade vorhanden ist, Architekten werden selten in die Planung einbezogen.

Seit der Jahrtausendwende verändert sich das ursprüngliche Bild der Siedlung rasant. Die Wohngegend ist aufgrund ihrer verkehrsgünstigen innenstadtnahen und zugleich grünen Lage sehr begehrt. Viele der Erstsiedler sind gestorben, die neuen Eigentümer machen Tabula rasa, reißen die Ursprungsbebauung ab und ersetzen sie durch moderne Eigenheime. Auch die Stadt investiert: befestigte Bürgersteige, neue Straßenlaternen, die oberirdische Elektrifizierung wurde verbuddelt.
Diese Prozesse sind im vollen Gange und werden auch weiterhin festgehalten. Aktuell wird diese Seite um die Aufnahmen aus dem Jahre 2013 ergänzt.

Vielen Dank nochmals an Prof. Dr. rer. pol. habil. Tilman Harlander für den netten und informativen E-Mail-Austausch und dem Christians Verlag aus Hamburg für die Erlaubnis zur Überarbeitung und Verwendung zahlreicher Grafiken und Pläne aus dem Buch Siedeln in der Not : Umbruch von Wohnungspolitik und Siedlungsbau am Ende der Weimarer Republik / Tilman Harlander ; Katrin Hater ; Franz Meiers.

Lageplan der Siedlung in Karten von 1850-2016

Bebauungspläne der Siedlung 1932, 1935 und 1981, © Alle Abbildungen: Christians Verlag

Haustypen der Siedlung Am Roten Haus, © Alle Abbildungen: Christians Verlag