3a- Fotografische Sozialisation durch Fotoforen und Fotomagazine: Orientierungsbedarf

Wer sich eines Tages entschließt, den wenig ambitionierten Bereich der persönlichen Familiendokumentation und der Erinnerungsfotos zu verlassen, um sich fortan der großen Bildkunst zu widmen, wird als Allererstes „etwas Besseres“ kaufen wollen. Denn dass man für die hohe Bildkunst (oder das Kunstbild?) „etwas Besseres“ braucht, ist jedem klar, das gilt quasi als Allgemeinwissen, auch und besonders bei Nichtfotografen.

Die quasi blinde Entscheidung für die Anschaffung von „etwas Besserem“ kann schon der erste Fehler auf dem Weg in eine ambitionierte Fotografie sein und ist es auch meistens. Richtig wäre es, zunächst zu überprüfen, welche Art von hoher Kunst man fortan produzieren will und ob das nicht auch erst einmal mit dem vorhandenen Familien- und Reiseapparätchen geht.

Nun soll aber nicht verschwiegen werden, dass dieser Vorschlag natürlich ein rein theoretischer ist, weil der ambitionsfreie Familienknipser erstens nicht weiß, welche Art hoher Kunst er künftig produzieren will, und, wenn er es (zweitens) wüsste, ihm die technisch-handwerklichen Kenntnisse fehlen um zu beurteilen, wie weit die Leistung der kleinen Kamera reicht, relativ zu seinen Absichten, die schön aber nur diffus und vielfältig vor seinem geistigen Auge wabern. Er kauft also „was Besseres“ in der absoluten Gewissheit der Unvermeidbarkeit einer solchen meist streng budgetierten Anschaffung. Der Weg zur großen Fotokunst beginnt also mit Käufen, nicht mit Lernen oder Probieren.

Und damit steht dem jetzt ambitionierten Amateur eine endlose Kette von Wiederholungen dessen bevor, was der Ökonom Fred Hirsch die „Qual der kleinen Entscheidung“ nennt. Er braucht eine Kamera, ein oder zwei Objektive und diverses Zubehör, und er stellt fest, dass es das alles von zehn verschiedenen Anbietern gibt und er über keinerlei Information verfügt, die ihm als Entscheidungsgrundlage dienen könnte. Was besonders beängstigend ist, weil der ambitionierte Amateur selbstverständlich Systemkameras mit proprietären Merkmalen und Anschlüssen benutzen muss und es sich bei den Anschaffungen also um einen sogenannten Systemkauf handelt, somit um Entscheidungen von einiger Tragweite, ganz besonders in Zeiten kürzester Innovationszyklen. Kann man doch im Nu auf einem Haufen veralteten Equipment sitzen, das keiner mehr haben will. Und veraltetes Equipment benutzen zu müssen ist so ziemlich das Schlimmste, was einem ambitionierten Fotografen heutzutage, in der Welt der digitalen Fotografie, passieren kann. Das haben wir ja alle schon bei den PCs gelernt, in den letzten fünfzehn Jahren. Also: Systemkauf, digital und proprietär, das bedeutet höchste Alarmstufe beim Orientierungsbedarf! Zumindest bei Männern, die nicht zu Befreiungschlägen aus der Qual der Entscheidung fähig sind wie Frauen, die eine Kamera kaufen können, weil sie ihnen „am besten gefällt“, wobei sie auch diesen Grund nicht  analytisch hinterfragen müssen. Die Emotion allein genügt als Entscheidungsgrundlage,  das schafft kein Mann.

Alles kein Problem, denkt der ambitionierte Amateur, der schönes Großes vorhat, wir leben ja im Zeitalter des Internet, und außerdem gibt es immer noch die Fachpresse, die Papa bereits in den Siebzigern las, um dort seine Kauforientierungen zu finden. Allerdings schon damals immer auf der Hut, ob da nicht doch irgendeine große Marke verdächtig oft verdächtig positiv beurteilt wurde. Also kauft der ambitionierte Fotograf sich zunächst ein Fotomagazin (mit Tests) und dann einen Pay Account in einer fotografischen Community. Wenn es ganz dumm kommt, gehören Magazin und Forum dem gleichen Eigentümer. Das ist dumm,  weil dann die Werbeeinnahmen in die gleiche Kasse fließen und eventuelle Präferenzen für bestimmte Hersteller damit mediendurchgängig sind.

Und so beginnen viele ihren jahrelangen Marsch durch die Bilderplattformen und Internetforen um „etwas zu lernen“. Und was die meisten am Ende gelernt haben werden (manche lernen es allerdings nie) ist vor allem, durch welche Ströme von Ignoranz und Kompetenzdefiziten, von schwachsinnigen Mythen, Markenwahn, viralem Marketing, bezahlter Meinung und dummdreister schulmeisterlicher Anmaßung man waten muss, um vielleicht, nicht immer, einen validen, kompetenten Ratschlag auf seine Frage zu bekommen.

Auf alle Irrwege, auf die man geraten kann in virtuellen Räumen, in denen Anfänger Unterricht erteilen wollen, Technikfetischisten und Brandnuts (markenreligiös Entgleiste) den Newcomer in ihr Reich der Tests, also der vollkommenen praktischen Irrelevanz locken wollen und wo Mietmäuler für die Hersteller verdeckte Werbung platzieren, auf all diese Möglichkeiten, den falschen Informationen auf den Leim zu gehen, wird in den folgenden Unterkapiteln detailliert eingegangen werden.

Ebenso (und das ist nicht minder von Bedeutung, besonders deshalb sprach ich von fotografischer Sozialisation), wird darauf eingegangen, welchen Schaden die ästhetische Erziehung anrichten kann, die dem blauäugigen Individuum möglicherweise widerfährt, das ahnungslos  und orientierungsbedürftig durch die virtuellen Beratungs- und Ausstellungsräume irrt.