3e – Fotografische Sozialisation durch Fotoforen und -magazine: Die Talentfrage: Sehen können als visuelle Begabung und erlernte Fähigkeit

Die Frage nach Talent oder Begabung ist in der privaten Massenfotografie tabu!
Diese Begrifflichkeiten kommen nicht vor, und wer sie doch ins Gespräch bringt, wird mit Aufforderungen zur Begriffsdefinition attackiert; ein probates Mittel, die Diskussion in Nebendiskussionen zu zersplittern und irgendwann ohne Ergebnis im geistigen Nirwana enden zu lassen.
Ich schrieb über die Pest des Elitären bereits im vorhergehenden Artikel, und wie der Verfechter des „gesunden Menschenverstandes“ sie tapfer bekämpft an der Bilderfront. Selbstverständlich ist Talent in diesen Zusammenhängen als elitär einzustufen, als undemokratisch, und deshalb hat es nicht vorzukommen.
Würde jemand als talentiert bezeichnet und als solcher weithin anerkannt, wäre damit ein objektives Merkmal besonderer Qualität geschaffen, das nicht auf die übliche Weise relativiert werden kann, also mit Hinweis auf den persönlichen Geschmack und die persönliche Wahrnehmung, differierend von Individuum zu Individuum.
Und genau das gilt es zu vermeiden im Waldorfkindergarten der Spaßknipserei. Alles ist mehr oder weniger, aber immer gut und nur Lob ist wirklich konstruktiv.

Man könnte auf den ersten Blick gerührt sein, von soviel geradezu humanistisch gesinnter Fürsorge für das kreative Individuum in der Fotografengemeinde, die eine solche antielitäre Ideologie vermuten lässt.
Auf den zweiten Blick erkennt man dies aber als nur einen Teil von den vielen, aus denen sich der Gesamtkomplex der Relativierungsideologie zusammensetzt, die keineswegs irgendeine humanistische Wurzel hat, sondern lediglich dazu dient, mit Gleichmacherei die Mitglieder der massenhaften Spaßfotografie insgesamt zu schützen vor jeder Art von ernsthafter Kritik.
Vor allem die Truppe der fotografischen Totalversager, das langweilige Mittelmaß der ewigen Nachahmer und die Technikdeppen, die mit ihren immer neuesten Kameras nichts als Testbilder fabrizieren, begeben sich gerne unter diesen ideologischen Schutzschirm, wenn es brenzlig wird. Das heißt dann, wenn wieder mal irgendein Dummkopf im Besitz der alleinseeligmachenden Wahrheit ihnen eben diese sagt über den Bildermüll, den sie produzieren.

Was hier erkennbar wird: Der durchschnittliche Mainstreamknipser ist offensichtlich unsicher. Er traut seinen Künsten und seinen Bildern nicht so recht, weiß oft sogar um ihr Mittel- oder Untermaß, denn er müsste blind sein, könnte er nicht erkennen, wie viel bessere Bilder um ihn herum existieren, deren Qualität zu erreichen ihm aber, er weiß nicht warum, einfach nicht gelingen will. Vor allem aber sind die meisten charakterlich gar nicht in der Lage, mit kritischen Anmerkungen, welcher Art auch immer, in irgendeiner Weise umzugehen. Denn der angemessene Umgang mit Kritik ist eine Erziehungs- und Bildungsfrage, etwas, das man lernen muss. Eine Ironie, wenn man bedenkt, wie explizit diese Kritik eingefordert wird. Die Gegenprobe: Schaut man in den Teil der Amateurfotografie, in der Fotografen mit einer Idee, einem Konzept und gestalterischer Phantasie unterwegs sind, findet man dort nichts von dem in sich zutiefst widersprüchlichen ideologischen Schutzkonstrukt. Die Idee der „konstruktiven Kritik“ existiert dort nicht, und fühlt sich doch einmal einer berufen, seine Verbesserungsvorschläge zu präsentieren, lässt man ihn kommentarlos gewähren, solange es nicht persönlich wird. Als faux pas eines unhöflichen Besserwissers wird so ein Benehmen meist still übergangen. Kritik gilt in diesen Kreisen als etwas, das nur unter bestimmten Bedingungen funktionieren kann, wenn es denn überhaupt vom Autor aus gewünscht ist. Also eigentlich nur unter qualifizierten Freunden, deren Bilder einen selbst begeistern können, generell nur unter talentierten Leuten, die lange, erfolgreiche Lernprozesse hinter sich gebracht haben, die viel wissen und deshalb viel können, ganz besonders aber die, die spezielle Fähigkeit haben, sich auf Bilder anderer einzulassen, die sie selbst nie machen würden.

Man vergleiche die beiden Welten, ihre ideologischen Fundamente und Umgangsformen und die Bilder, die sie hervorbringen und ziehe seine eigenen Schlüsse daraus zur Bedeutung von Talent und von der Aneignung von Wissen und Können in langwierigen Lern- und Reifeprozessen im Dialog mit sich selbst.